Pillo Ralli
oder
Was uns die PISA-Studie nicht verrät...

Ein Land unter der Lupe: Ist Finnland wirklich ein brauchbares Vorbild für den Rest der Welt? Oder dient dieses kleine entlegene Land den Politikern lediglich als allseits taugliches Argument für beliebige Forderungen und Reformen? Schauen wir also hinter die Potemkinschen Fassaden und lernen wir von Menschen, die so vieles besser machen als wir.


Einerseits ist alles ganz einfach. Wenn nur das Andererseits nicht wäre. BRIGITTE-Kolumnistin Julia Kamick über:

Ein paar Dinge, die die Pisa-Studie nicht über Finnland verrät

Betrachtet man die Pisa-Ranglisten, drängt sich der Gedanke auf, dass man Job und Wohnung kündigen, der Heimat Ade sagen und nach Uusikaupunki, Jyväskylä oder Riihimäki ziehen sollte. Schon immer haben Eltern um der Zukunft ihrer Nachkommen willen Haus und Hof verlassen, südwestdeutsche Bauern besiedelten ab 1763 auf Einladung Katharinas der Großen die untere Wolga, seit Mitte des 19. Jahrhunderts strömten Auswanderer aus ganz Europa nach Amerika, vor 50 Jahren zogen die ersten italienischen Gastarbeiter in die Bundesrepublik - warum nun nicht mal von Deutschland nach Finnland? Genug Platz haben die ja: „Meine Tochter soll es besser haben als ich, sie wird wissen, wie man Integralgleichungen löst!"

Niemand kann toller rechnen und lesen als Finnland: Da steht es nun, ganz vorn, ein Land, das auf den ersten Blick nicht viel mehr zu bieten hat als eine nach logopädischem Therapiebedarf klingende Sprache mit 15 Fällen, einen sehr langen, dunklen Winter, einen Sommer mit mehr Mücken als Sternen, rund 5,2 Millionen Menschen, von denen die gefühlte Hälfte bei oder für Nokia arbeitet — und eben eine Eins plus in Mathe und in Lesen. Das alles reicht, um Finnland ein bisschen komisch zu finden, aber nun klopfen ihm auch noch andauernd öffentliche Oberlehrer auf der Schulter herum: „Guckt euch Finnland an, wie schön es seine Hausaufgaben macht, und nehmt euch ein Beispiel!" Und plötzlich findet man Finnland nicht nur komisch, sondern blöd: „Pah, wer will schon so sein wie dieses Finnland mit seiner dreistelligen Ländervorwahl? Nicht mal 16 Einwohner pro Quadratkilometer - kein Wunder, dass die am besten rechnen und lesen können: Wer drei Stunden bis zur nächsten Party braucht, hat halt nichts Besseres zu tun. Da geht doch keiner freiwillig hin, man braucht nur den Ausländeranteil anzuschauen: zwei Prozent, damit kann ja jeder Pisa gewinnen!"

Und was haben die jungen Finnen eigentlich davon, dass sie so prima rechnen und lesen können? Die Arbeitslosenquote unter finnischen Jugendlichen ist mit rund 21 Prozent eine der höchsten Europas, ebenso wie die Selbstmordrate unter Jugendlichen. Verglichen mit anderen fangen die finnischen Teenies sehr früh an zu rauchen und zu trinken. Sie rauchen und trinken zwar nicht mehr als andere junge Leute, aber wenn, dann richtig, so eine aktuelle Studie. Die Finnen bekommen eben so oft gesagt, wie schlau sie sind, dass sie wohl denken, ein paar graue Zellen weniger fallen da nicht weiter ins Gewicht. Schon mal zu Hause mit dem Saufen anzufangen, bevor das sowieso teure Bier in der Kneipe noch teurer bezahlt werden muss, nennt man übrigens „otta pohjia" (frei übersetzt: Grundlage antrinken). Ein anderer Brauch geht so: Die Mädchen spazieren den Bürgersteig auf und ab, die Jungs fahren in Ami-Schlitten die Straßen auf und ab - bis ein Mädchen mit einem Jungen zusammen irgendwo anders hinfährt. Dieser Spaß hat den Namen „pillo ralli". Was „pillo" heißt, verrate ich nicht.

Angesichts der finnischen Eigenarten verspüre ich eine gewisse Unfähigkeit, mich von Pisa beeindrucken zu lassen: Man sollte eine Studie in Auftrag geben, die emotionale und soziale Kompetenzen misst. Falls dabei herauskommt, dass die finnische Jugend die netteste und glücklichste weltweit ist, werde ich laut „Oh!" und „Ah!" rufen. Und nie wieder Finnland ärgern.

Quelle: BRIGITTE 2/2006, S. 9