Erfurt oder Der alltägliche Wahnsinn |
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„Wenn ich Sie mal abends allein erwische!“ Von ganz normal absurden Schulzuständen: Der Horroralltag eines Gymnasiallehrers Mit diesen Worten beginnt ein Beitrag von Uwe Peter (Jahrgang 1943) in der Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16.05.2002. Er schildert am Beispiel des Gymnasiums in Langen/Niedersachsen, an dem er kommissarischer Schulleiter ist, die Zustände an den Schulen in Deutschland. Sein authentischer Bericht beleuchtet einige der Gründe für die Bildungsmisere, wie sie in den Pisa-Ergebnissen zum Ausdruck gekommen sind. |
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1. Er schildert die
Vorurteile, die den Lehrern üblicherweise von Eltern, Presse, Öffentlichkeit
entgegengebracht werden. Weil fast jeder diesen Job ja viel besser
beherrscht als ein Lehrer. Wenn in der Kneipe, in der Familie oder im Fernsehen über Schule oder Lehrer geredet wird, stelle ich mir vor, was die am Gespräch Beteiligten wohl für eine Figur vor der Klasse machen würden. Meist fällt mein Urteil vernichtend aus: zu wenig kompetent, nicht geduldig genug, zu schwache Nerven, zu eitel.
2. Oder liegt es an den Schülern selbst? In einer Fernseh-Sendung kurz nach dem Massaker am Gutenberg Gymnasium in Erfurt, bei dem 13 Lehrer, 2 Schüler und 1 Polizist von einem ehemaligen Schüler erschossen wurden, erteilte Sabine Christiansen 3 Schülern das Schlusswort. Sie bekam von ihnen zur Antwort, dass Lehrer selbst schuld seien, wenn sie erschossen werden! 3. War mit einer solchen Antwort zu rechnen? - Hierzu wieder Uwe Peter: Hätte sie das vorher wissen können? Nein, das konnte sie nicht wissen. Woher auch? Sie hätte sich vorher von einem Lehrer beraten lassen können. - Aber seit wann fragt man Lehrer, wenn es um Schule geht? Man fragt Kultusminister, die oft noch nie (oder höchstens einige euphorische Anfangsjahre nach dem Studium) in der Schule waren oder sich ihre Kompetenz als Fußballmanager erworben haben. Vielleicht fragt man auch Verbandsvertreter, denen dann nichts anderes einfällt, als ihr ideologisches Programm herunterzubeten ("Gesamtschule", "Ganztagsschule", "dreigliedriges Schulsystem"). Die richtigen Organisationsformen sind schon wichtig. Aber retten werden uns andere Schulstrukturen auch nicht. 4. Und dann die äußeren Umstände, die oft alles andere als motivierend und leistungsfördernd sind: Natürlich gehört hierzu das Fenster, das sich nicht öffnen oder schließen lässt oder das undicht ist, das Deckenelement, das seit langem verschoben oder halb abgebrochen ist, das Leck, durch das es bei Regen in den Raum tropft. "Regnet es bei Ihnen auch durch?" Der Leiter des Schulamtes beim Schulträger weiß nicht recht, was meine Frage soll. Natürlich regnet es bei ihm nicht durch. Auch bei der Sparkasse nebenan oder beim Versicherungsgebäude regnet es nicht durch. Immerhin verspricht er, dass das Dach nicht erst im übernächsten Jahr, wie im Haushaltsplan vorgesehen, sondern schon im nächsten Jahr saniert werden soll. Man gibt sich Mühe, aber das Geld ist knapp. Manchmal allerdings auch nicht! Die Stadt Bremerhaven hat einen Sanierungsbedarf von 60 Millionen Euro errechnet, um das Allernötigste an den Schulen zu reparieren. So stand es in einer achtzeiligen Zeitungsmeldung. Daneben ein großer Bericht über Verschönerungsmaßnahmen in der Fußgängerzone: genau 60 Millionen für eine neue Pflasterung aus hellem chinesischen Granit, dazu ein Brunnen für mehrere hunderttausend Euro. - Auch deswegen sind wir nicht zu retten. 5. Auch die Arbeit selbst macht oft keinen Spaß:
6. Aber der Autor hat als Pädagoge auch Verständnis für die Schüler. Er zitiert Hesse: "Wer aber mehr und Schwereres vom andern leidet, der Lehrer vom Knaben oder umgekehrt, wer von beiden mehr Tyrann, mehr Quälgeist ist, und wer von beiden es ist, der dem anderen Teile seiner Seele und seines Lebens verdirbt und schändet, das kann man nicht untersuchen, ohne bitter zu werden" (Hermann Hesse, "Unterm Rad"). Allerdings: Hans Giebenrath, der traurige Held in Hesses Schülerroman, wäre nicht auf die Idee gekommen, seinen Lehrern die Schuld an seinem Versagen zu geben, und wenn, dann hätte er nicht gewagt, sie mit in den Tod zu nehmen. Freilich hätte er Grund gehabt, sich über mangelnde Fürsorge und mangelndes Verständnis zu beklagen. 7. Ein Problem ist die zeitliche Belastung der Lehrer, obwohl Lehrer wegen dieses Punktes – wohl aus Unkenntnis – üblicherweise bespöttelt werden: Wir geben uns Mühe - eigentlich alle, in jeder Pause und in jeder Konferenz.- Aber: Ein Lehrer hat zwischen 23,5 und 27 Stunden Unterricht in der Woche. In Niedersachsen muss er sogar (wenn er unter fünfzig Jahre alt ist) zwei Stunden vorarbeiten (das nennt sich "Arbeitszeitkonto", damit der augenblickliche "Schülerberg untertunnelt" werden kann, wie es in der Sprache des Kultusministeriums heißt). Das heißt, er kommt auf bis zu 29 Stunden in der Woche, eine Vertretungsstunde muss er sicherlich auch noch hinnehmen: Das sind dann sechs Stunden Unterricht jeden Tag. Natürlich muss in den Pausen auch Aufsicht geführt werden. Drinnen. draußen, die Raucher müssen geschnappt werden; läuft irgendwo ein heimlicher Drogendeal ...? In den übrig bleibenden Minuten findet dann die von der Gesellschaft mit Recht geforderte intensive Betreuung statt, die Hinwendung zum einzelnen Schüler. 8. Haben die Schüler vor der Schule Angst ? Ich kenne keine Schüler, die wirklich Angst vor der Schule haben, höchstens wenn die Eltern sie auf eine Schulform gezwungen haben, auf der sie hoffnungslos überfordert sind. Ich kenne aber die Angst des Lehrers vor der Schule. - Meine schwierigste Aufgabe als Schulleiter ist es, Lehrer vor den Angriffen der Eltern zu schützen, ihnen zu helfen, wenn sie kurz vor den Zeugnissen massiv unter Druck gesetzt werden, sie zu ermutigen, bei begründeten schlechten Noten nicht einzuknicken. 9. Bekommen die Lehrer wenigstens Unterstützung von den Eltern? – Wohl nicht: "Wenn ich Sie mal alleine abends erwische, haue ich Ihnen eine rein!" Im näheren Umkreis sind schon mehrere Lehrer verprügelt worden, in einem Fall ist der Lehrer vom Vater des Schülers dabei festgehalten worden! 10. Der Autor wird am Ende fast bitter. Oder schwingt schon Resignation mit? Damals: "Dass mir ja keine Klagen kommen", hatte mein Vater zu mir gesagt, als ich auf die Schule kam. Und heute: "Meine Mutter hat gesagt, ich soll mich wehren, wenn ich etwas machen soll, was ich nicht will", hat mir einmal ein Dreizehnjähriger gesagt, als ich ihn beauftragte, die Reckstange abzubauen. Was ist schlimmer: wenn eine Kollegin in der Grundschule mit "Du alte Fotze!" tituliert wird oder wenn einem Lehrer Prügel angedroht werden? Und wo hört es auf? Resümee: Die Gründe für den Bildungsnotstand sind offensichtlich vielschichtig. Jedenfalls können einem die Lehrer leid tun. Zumal fast alle, die ich kenne, fleißig, tüchtig und engagiert sind. - Ich möchte ihren Job jedenfalls nicht machen. Übrigens: Das Killer-Spiel Counter-Strike, das der oben erwähnte Amokläufer von Erfurt monatelang vor dem Massaker gespielt hatte, wird nicht indiziert. Die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften kam 3 Wochen nach dem Massaker zu dem Ergebnis, dass dieses Computerspiel nicht in die Liste der jugendgefährdenden Schriften aufgenommen werde. Eine verrohende Wirkung sei nicht gegeben, weil bei der Umsetzung von Action-Szenen weitgehend auf Effekthascherei verzichtet werde. Und außerdem: Das Spiel sei durchaus blutig, aber nicht so blutig wie andere indizierte Spiele. Difficile est satiram non scribere (Iuvenal, Satire I, 30) Aber das Leben ist ja oft schon Satire genug! Ja, es ist schwer, keine Satire zu schreiben. |
Quelle: http://www.weikopf.de |
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