Benehmen
oder
Drängeln und Pöbeln ...

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Drängeln, pöbeln - schlechtes Benehmen wird unterschiedlich erklärt

von Rudolf Grimm, dpa

(Hamburg/dpa) - Die große Mehrheit der Deutschen ist laut Umfragen fest überzeugt, dass Höflichkeit das Zusammenleben leichter macht. Im Alltag verhalten sich viele allerdings nicht entsprechend: Rüdes, rücksichtsloses Benehmen im Beruf ebenso wie im Straßenverkehr, vielfach mürrisch-abweisende Gesichter. Nette Worte unter Unbekannten, ein freundliches Lächeln, auch Nachbarn gegenüber im Vorübergehen sind eher die Ausnahme. Was sind die Ursachen? Die Zeitschrift «Psychologie heute» (Weinheim) ist dem nachgegangen.

Quelle: www.glaubeaktuell.net
Sie zitiert in einem Beitrag den Psychologen Jürgen F. Detering, den Vorsitzenden der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung, der das Wirtschaftssystem mit seinem Konkurrenzkampf nennt. «Wir leben in einer Zeit der strukturellen Rücksichtslosigkeit.»

Ein Argument gegen Erklärungen dieser Art ist jedoch der Hinweis auf andere Länder. Professor Johann Engelhard vom Fachbereich Internationales Management der Universität Bamberg verweist zum Beispiel auf das bessere zwischenmenschliche Klima in Osteuropa.

Dem Direktor des Ostasieninstituts der Universität Duisburg, Florian Coulmas, fiel nach fast zwanzig Jahren in Japan der rabiate Ton gegenüber Kindern in Deutschland besonders auf. «In Japan hat man mehr Geduld und man ist sich auch stärker bewusst, dass Erwachsene mitverantwortlich sind für das, was die Kinder tun und dass man sie durch Grobheit allenfalls dazu bringen kann, selbst grob zu sein. Eben dies geschieht in Deutschland», sagte er der dpa.

Man könne das Kultur nennen oder Mentalität, aber das klinge so schicksalhaft, so unvermeidlich, urteilte der Verfasser des Buchs «Die Deutschen schreien. Beobachtungen von einem, der aus dem Land des Lächelns kam» (Rowohlt Verlag) weiter. «Gewiss gibt es ein grobianisches Element in der deutschen Tradition. Das kann aber nicht alles erklären.»

Coulmas neigt eher dazu, in dem herrschenden rauen Ton eine Spätfolge des Nationalsozialismus und seiner Aufarbeitung zu sehen. «Es herrscht ein gebrochenes Verhältnis zur Ordnung. Das drohende Chaos glaubt man nur durch das Pochen auf Regeln eindämmen zu können. Das Vertrauen in tradierte Sittlichkeit ist ebenso gründlich gestört wie das in Autorität. Ein diffuses Missbehagen im gesellschaftlichen Umgang ist die Folge.»

Der Soziologe Rolf von Lüde (Universität Harnburg) wiederum sieht die Verhaltensproblematik im Kontext mit einem strukturellen Wandel der Gesellschaft - und damit kurzfristiger. «Perioden des Übergangs bieten dem Nachdenken eine besondere Chance. Die älteren Standards sind zum Teil fragwürdig geworden, neue festere noch nicht vorhanden», sagte er. «Es öffnet sich der Blick für vieles, was der vorangehenden Generation an ihrem Verhalten als selbstverständlich erschien. Söhne fragen. 'Weshalb muss 'man' sich hier so und dort so verhalten? Was ist der Sinn dieser Manieren und jener Moralvorschriften?'»

Einen besonderen Einschnitt datiert der Professor von der Studentenbewegung Ende der sechziger Jahre her. «Normen des guten Benehmens wurden als entleert, lockerere Umgangsformen als angemessen empfunden. Das hat dann schließlich auch dazu geführt, dass bewährte Formen des sozialen Umgangs und der Kommunikation miteinander sich auflösten - mit teilweise erschreckenden Ergebnissen.»

Immerhin scheint es seit einigen Jahren eine gewisse Renaissance von Etikette, von Manieren im engeren Sinne zu geben. Etwa bei Tisch, bei traditionellen Grußformen, bis hin zum Handkuss, auch bei gepflegter Kleidung. Bücher zum Thema haben Konjunktur.

Den Soziologen Dirk Kaesler (Universität Marburg) erinnert der aktuelle Ruf nach Höflichkeit an einen «Phantomschmerz der deutschen Gesellschaft». Über hundert Jahre sei das «Verhalten bei Hofe» - was ursprünglich mit Höflichkeit gemeint war - lächerlich gemacht worden. «Nun erinnern sich manche in Politik, Wirtschaft und Feuilleton daran, dass Verhaltensstandards zerstört wurden, die das Zusammenleben von Menschen so viel angenehmer machen.»

Die systematische Destruktion von «Manieren» in Deutschland habe mit dem Nationalsozialismus begonnen, sagte der Professor und gibt damit ein zeitlich ähnliches Stichwort wie Coulmas. Sie habe sich im Westen mit den Ton angebenden Kleinbürgern und im Osten unter den «Parteigenossen» fortgesetzt. Und eine Rehabilitation von Rücksicht und Anstand werde wohl noch länger auf sich warten lassen - trotz aktueller Etikette-Trends, glaubt Kaesler.